Das Gleitschirmfliegen hat viel Gesichter. Zum einen durch die ganzen Einflussfaktoren, die ich schon im Artikel „Fliegen – und was alles dazugehört“ beschreibe, zum anderen durch die viele unterschiedlichen Disziplinen innerhalb des Gleitschirmsports. Hike&Fly, Tandem, Acro, Speedwing, Dünensoaring und die schwierigste aller Disziplinen, das Streckenfliegen. (Es gibt noch Steigerungen innerhalb des Streckenfliegens, wie die Alpenüberquerung oder das Biwakfliegen und das auch noch auf andere Kontinenten).
Streckenfliegen in einem Satz: Zurücklegen großer Distanzen durch Verlängerung des Gleitwinkels mittels Nutzung der Thermik. Okay, keiner soll so einen gestelzten, juristischen Satz verstehen und auch noch Wissen rausziehen müssen, also erklär ich das in einfacheren Worten.
Streckenfliegen ist…
Mit dem Gleitschirm lässt sich ja mehr anstellen als nur nach unten zu fliegen. Schaffen wir als Piloten es steigende Luftmassen zu finden und in diesen zu bleiben, so verhindern diese, dass wir weiterhin sinken und wenn die Luftmassen schnell genug steigen können wir sogar mit ihnen an Höhe gewinnen. Solche Luftmassen sind entweder Hangaufwinde oder Thermiken. Thermik steigt bis zur sogenannten Basis, wo sie endet, bzw. sich eine Thermikwolke (Schäfchenwolke oder auch Cumulus) bildet. Ist diese Basis hoch genug, d.h. lässt sie es zu weit genug hochzusteigen, so können wir von dort aus zur nächsten Thermik gleiten. Indem wir das wieder und wieder machen, können wir weite Distanzen zurücklegen. Das ist Streckenfliegen mal sachlich erklärt.
Streckenfliegen messbar gemacht
Wie wir Menschen so ticken, machen wir aus allem ein Spiel – einen Wettbewerb, und dazu brauchen wir Regeln. Die Regeln beim Streckenfliegen sind einfach. Wer am weitesten fliegt, gewinnt. Naja, so einfach ist es dann doch nicht: wer mit dem Wind fliegt hat es leichter, wer wieder zum Startplatz zurückfliegt schwerer…deshalb wird das in unterschiedlichen Streckenarten gemessen. Was alle Strecken gemeinsam haben ist, dass die drei am weitesten voneinander entfernten Punkte, die Eckpunkte gemessen werden. Bei der „Offenen Strecke“ handelt es sich um einen One Way Flug. Es geht in eine Richtung, idealerweise mit dem Wind und man landet weit weg vom Ausgangsort. Beim „Flachen Dreieck“ und „FAI Dreieck“ ist das Ziel wieder zum Startpunkt zurückzukommen. Flach bedeutet, es wird einmal weg vom Startpunkt und auf mehr oder weniger derselben Route zurückgeflogen. Daher kann man seitlich zum Wind fliegen - kein Gegenwind, kein Rückenwind, zwei mal dasselbe Gelände. Beim FAI Dreieck sind alle drei Wendepunkt möglichst gleich weit voneinander entfernt. Folglich muss mindestens einmal gegen den Wind und immer durch neues Gelände geflogen werden. Damit ist das FAI Dreieck die schwerste Form der Strecke und gibt im Wettkampf den größten Faktor, mit dem die geflogenen Kilometer multipliziert werden. Bei all der Rechnerei dürfen wir allerdings nicht vergessen, worum es beim Streckenfliegen wirklich geht: den Spaß!
Wetter und Streckenfliegen
„Streckenfliegen ist 50% Wetterglück“ hat einmal ein recht guter Streckenflieger zu mir gesagt. Naja, nicht ganz, aber es ist was Wahres dran. Streckenfliegen ist extrem wetterabhängig, aber das Wetter zu lesen ist nicht nur an Glück gebunden, sondern auch an viel Erfahrung, Geduld und einen äußerst flexiblen Terminkalender. Die erfahrenen Piloten wissen scheinbar schon Tage zuvor (oder zumindest einen Tag zuvor), wenn ein guter Streckenflugtag ansteht – es sind immer dieselben, starken Kandidaten in der Luft und leisten großes. Aber nicht nur das Erkennen des Tages mit dem passenden Wetter ist wichtig, um erfolgreich Strecke zu fliegen, sondern auch das Lesen des Wetter während des Fluges. Was es dabei zu lesen gibt? Gelände, Wolken und Windsysteme. Die Windsysteme ergeben sich aus der Geographie des Geländes und den unterschiedlichen Windarten. Genau, es gibt nämlich mehr als nur „Wind“. Es gibt überregionalen oder auch meteorologischen Wind (Druckausgleiche zwischen Wetterzonen), thermisch induzierten lokalen Wind und Talwind, wobei Talwinde zu thermisch induzierten Winden gehören. Wenn die Thermik, also aufsteigende Luft aufsteigt, bleibt ja nicht "nichts" zurück. Nein, es wird Luft nachgesaugt, und zwar aus dem Tal. Über einen Tag an dem Thermik über den Bergen immer mehr wird, wird demnach auch der Talwind immer mehr. Er fließt immer in dieselbe Richtung, nämlich talaufwärts und ist je nach thermischer Aktivität des Tags stärker oder schwächer. Talwinde können je nach Größe und Form des Tals und des dranhängenden Gebirges hoch werden – auch mal bis Gipfelhöhe. Der Talwind birgt die Gefahr einen Gleitschirmflieger zu schlucken und zur Landung zu zwingen, da er die Thermik aus dem Tal selbst verbläst bzw. sie gar nicht erst entstehen lässt. Allerdings lässt er sich auch nutzen, und zwar in dem Moment, wo er nach oben abgelenkt wird und idealerweise in eine Thermik übergeht. Der überregionale Wind vermischt sich mit dem Talwind und bildet je nach Richtung andere Effekte aus, die gefährlich werden oder nützlich sein können. Dies zu erkennen, macht einen guten Streckenpiloten aus. Die einfachste Methode sich ein Bild zu machen ist, sich die Luftströmung wie Wasser vorzustellen: Wo würde es hinfließen, wenn es nur bergauf fließen würde?
Wolken sind da zumindest für mich schon etwas schwieriger zu lesen. Aber warum sind Wolken so interessant, eigentlich steigen die Gleitschirme ja in der Thermik? Grundsätzlich funktioniert das so: eine Cumuluswolke ist das Ende eine Thermik, die sich an ihrem Ursprung von den Geländekanten darunter ablöst. Dazwischen steigt die Luft und die Wolke saugt Luft an, also ist sie aktiv. Thermik pulsiert, hört zwischenzeitlich auf und fängt wieder an, also wann ist die Wolke noch aktiv? Und wenn der überregionale Wind stark ist, wie groß ist der Versatz der Thermik, also wie schief steht sie? Die Thermikwolke ist noch aktiv, wenn sie wächst, scharfe Ränder hat und dunkel ist. Dabei wird es aber schon wieder interessant in Sachen Gefahrenbeurteilung. Eine schwarze Wolke kann auch mal abregnen oder im Schlimmstfall zur Gewitterwolke werden – hier spricht man von Überentwicklungen. Dies sind Gefahren, welche es zu erkennen gilt, um ein guter Streckenpilot zu werden. The Catch: Je näher an der Überentwicklung, desto stärker (also gut) ist oft die Thermik. Verlockend und gefährlich.
Thermik fliegen: Finden, nutzen und Linie fliegen
Ich hab es jetzt schon mehrfach angesprochen, Streckenfliegen steht und fällt mit der Thermik. Es ist also am wichtigsten die Thermiken zu finden und gut zu nutzen. Das Thermikfliegen ist für sich schon eine kleine Wissenschaft, aber kurz gesagt geht es darum zu ahnen, wo Thermiken entstehen, aufsteigen und dann wo sich ihr Kern, also das stärkste Steigen befindet. Thermiken bilden sich an Flächen, an denen sich der Grund erhitzen kann und damit die Luft darüber so erwärmt. Diese dehnt sich dadurch aus, wird leichter als die darüberliegende Luftschicht und wird zur Thermik. Sie steigt am steilen Gelände entlang auf und reißt dann an sogenannten Abrisskanten ab. Das sind Steilheitsübergänge im Gelände von mehr als 45° auf weniger. Auch hier trifft der Wasserflussvergleich wieder gut zu: stellt man die Landschaft gedanklich auf den Kopf, dann „tropft“ Thermik überall da ab, wo es auch Wasser tun würde. Ist die aufgeheizte Fläche an dem Abrisspunkt dann noch groß, so ist auch eine große Thermik zu erwarten. Idealerweise hat die Fläche eine Dreiecksform, wobei der Abrisspunkt die Spitze bildet. Findet man einen solchen Punkt und dort auch steigen, dann muss man nur noch die Mitte finden, also den Kreis so drehen, dass das Vario durchgehend gleichstarkes (starkes) Steigen signalisiert.
Jetzt ist es gerade mit Hinblick auf’s Streckenfliegen allerdings so, dass man bei jedem Kreis die Hälfte der Zeit in die falsche Richtung fliegt. D.h. eigentlich wollen wir ja geradeaus weiterfliegen um Kilometer zu machen, idealerweise trotzdem meistens steigend. Dabei wird das „Linie fliegen“ interessant. An Geländeformen, die nicht nur ein Dreieck mit einem Abrisspunkt haben, sondern die eine langgezogene Abrisskante haben, da ist auch die Thermik nicht punktförmig, sondern eine Linie oder Wand mit aufsteigender Luft. Gute Streckenpiloten haben gelernt zu erkennen und zu spüren, wo diese Linie sich entlangschlängelt. Sinkende Luftmassen werden dabei gemieden, bzw. beschleunigt durchflogen. So kann möglichst effizient Distanz zurückgelegt werden. Die Endstufe des Streckenfliegens.
Disziplinen: Streckenspass, Comp, Biwakfliegen
Wie gesagt, Streckenfliegen wird oft als Wettkampf gesehen, ganz nach dem Motto schneller, höher, weiter. Dazu gibt es neben dem ganzjährigen Streckenflugwettbewerb, der online auf xcontest.org und anderen, nationalen Portalen ausgetragen wird noch die klassische Wettkampffliegerei. Compfliegen, wie es zu Neudeutsch genannt wird. Bei dieser sehr fairen Disziplin geht es nicht darum den besten Thermiktag zu erschnüffeln und sich frei nehmen zu können, sondern darum einfach gut zu fliegen. Alle Piloten stehen zur selben Uhrzeit am selben Startplatz, in den Flugcomputern denselben Task eingespeichert. Alle gehen gleichzeitig in die Luft und starten vom selben Startzylinder, ein mittels GPS festgelegter Kreis mit einem bestimmten Radius. Zur selben Uhrzeit fliegen dann alle los, zum nächsten GPS-Punkt mit Radius, und zum Nächsten und so weiter bis zum Goal. Die Regeln sind simpel: Wer als erster ins Ziel kommt hat gewonnen. Es handelt sich also im Grunde einfach um ein Rennen. Ein Rennen mit besonderen Reizen: Durch die vielen Gleitschirme in der Luft wird die Luftbewegung und die steigenden Zonen visualisiert und man kann noch idealer Linie fliegen. Deshalb sind alle guten Piloten auch Comp-Piloten und nicht andersrum, weil hier bietet sich die beste Gelegenheit zu lernen, wie sich die Thermik verhält. Ein weiterer sehr wichtiger Reiz ist das Fliegen mit Freunden. Solche Wettkämpfe sind immer sehr gesellige und spaßige Events. Und trotz allem Wettkampfgedanken ist das meiner Meinung nach das Wichtigste am Fliegen der Spass! Was uns zu den zwei schönsten Disziplinen bringt. Das Streckenfliegen um der Freude Willen und das Biwakfliegen, die Perle der Gleitschirmfliegerei.
Ich persönlich bin einfach nur gerne in der Luft, erkunde neue Gebirgszüge, halte Ausschau nach bekletterbaren Felswänden, mit Ski befahren Rinnen und genieße es in vollen Zügen an Flanke entlangzufliegen, die anders nicht zugänglich sind. Ganz zu schweigen von der Perspektive. Die Welt von oben zu betrachten hat etwas Beruhigendes. Das alles macht das Streckenfliegen für so viele Berge und Gebirgszüge innerhalb eines Tages möglich. Und es werden dabei alle Sinne angesprochen. Ich höre den Wind, spüre die Luft wie sie an meinem Schirm zieht und rieche die Thermik (je nachdem aus welchem Gelände die Luft aufsteigt riecht man Latschen, Wälder oder auch mal Kuhmist).Was aber durchaus zum Genuss gehört sind die ganzen Tiere, die man aus der Luft sieht – viel mehr, als am Boden, da sie dort zu schnell flüchten.
Beim Biwakfliegen sind diese Eindrücke einfach noch viel mehr, wenn man einige Tage hintereinander unterwegs ist und immer wieder an den Orten oben am Berg einlandet, die man sich aus der Luft ansieht. Beim Biwakfliegen ist das Ziel an mehreren Tagen die Landschaft zu durchfliegen, dabei am Abend optimalerweise irgendwo oben am Berg einzulanden, um am nächsten Tag von dort wieder zu starten, und einen weiteren Streckenflug zu machen. Fliegen und am Berg übernachten, weiterfliegen und wieder oben schlafen, da muss ich wohl kaum tiefer erklären, was da der Reiz und der Genuss ist. Da sagen Bilder mehr als tausend Worte:
Streckenfliegen ist…
Für mich als Alpinisten ist Streckenfliegen eine unglaublich faszinierende und außergewöhnliche Art die Berge zu bereisen, zu erleben und zu erkunden. Es ist beeindrucken wie einfach sich die schwersten Berge und Wände „erklimmen“ lassen und wie schnell man ganze Gebirgszüge „überschreitet“. Und das alles nur mit einem Stückstoff über dem Kopf. Faszinierend ist die Perspektive der Vögel einzunehmen und auch mit diesen deren Lebensraum zu genießen. Es ist schwer in Worte zu fassen, wie gut sich diese Tiere in diesem Element bewegen – egal wie gut ein Gleitschirmpilot jemals werden wird, im Gegensatz zu einem Adler wird er immer ein Küken bleiben. Die richtigen Worte für meine Gefühle dabei sind vielleicht Ehrfurcht, Demut und Dankbarkeit. Wir Menschen sehen uns meist wohl als allzu wichtig und den Mittelpunkt von allem an, sind wir aber nicht. Erlebnisse wie mit den Tieren in der Luft holen mich persönlich dann immer sehr gut auf den Boden der Tatsachen zurück und lassen mich unsere beeindruckende Welt und meinen Platz darin angemessen begreifen wertschätzen. Und aus all diesen Gründen bin ich extrem dankbar, dass ich die Möglichkeit habe in die Luft zu kommen, zu fliegen und das sogar über weite Distanzen. Und am Ende, nach der Landung, ist ein wunderschöner Teil des Streckenfliegens das Abenteuer, das noch nicht zu Ende ist. Ein Abenteuer ist es dann, wenn man den Outcome nicht kennt. Und genau das ist bei jedem Streckflug der Fall. Vor allem bei ungeplanten Landungen und offenen Strecken, wo ich in der Regel ganz bewusst nicht weiß, wo ich lande. Dort gibt es dann immer einen neuen Ort zu entdecken, den Heimweg zu meistern und neue Leute kennenzulernen.
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